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sie bei diesem oder jenem Volke keimen. Warum hier eher als dort? Die Antwort liegt oft auf der Hand, zuweilen ist sie weniger leicht; aber was auch die Ursache sei, die Resultate sind dieselben. Die Jdee ist entsprossen, sie wächst, sie bringt Früchte, sie nimmt eine oder mehrere Formen an , sie bemächtigt sich der Beredtsamkeit, des Theaters, der Geschichte. Folget ihr; ihr seht sie in ihrer ganzen Ueppigkeit auf einen andern Boden verpflanzt, der sie sich ganz, oder zum Theil aneignetz von da geht sie auf einen dritten über, wo sie ohne Zweifel nicht stehen bleiben wird. So macht jede Jdee in den verschiedenen Ge- staltungen den Kreislauf durch die europäische Bildung, bald rasch ergriffen, bald langsamer eindringend, hier fruchtbar in Meisterwerken, dort mager oder bei aller Anstrengung mißrathen, manchmal verschwindend vor unsern Augen, um später wieder aufzutauchen, wie jene Flüsse, welche sich in einiger Entfer- nung von ihrer Quelle in den Boden verlieren, dann aber weiterhin wieder zum Vorschein kommen und ihren unterbrochenen Lauf unter freiem Himmel fortsetzen.

Auch wäre es ein herrliches Unternehmen und würdig eines kräftigen Gei- stes, die Geschichte der Literatur nicht nach chronologischer oder ethnologischer, sondern, wenn ich es wagen darf, mich dieses Ausdrucks zu bedienen, nach einer eidologischen Methode zu behandeln. Der Schriftsteller würde suchen, die Gesammtheit und die Beziehungen der Hauptideen, die sich auf literarischem Felde gebildet haben, die antike Jdee, die christliche, die klassische, die protestantische, die mv"11akchische- die philosophische, die sociale zu erklären; dann würde er, jede derselben bei ihrer Wiege aufgreifen, ihr in ihrem Laufe folgen, sie auf ihren Wanderungen begleiten, ihre verschiedenen Schicksale, ihre auf einander folgenden Umbildungen, ihre Entwickelung , ihren Höhepunet und ihren Verfall angeben. Er würde für die Literatur denselben Weg befolgen, den für die Geographie jene Autoren einschlagen, welche ein Land nach den Flußgebieten beschreiben , indem sie einen bedeutenden Strom bei seiner Quelle aufnehmen, die reichen Thäler, die finstern Wälder, die volkreichen Städte, dann wieder die kahlen Haiden und Einöden schildern, welche er durchfließt, indem er in seinem Laufe den Tribut der Nebengewässer aufnimmt, —- bis er sich in der Unermeß- lichkeit des Qeeans verliert.

Oder wenn die Aufgabe zu schwierig wäre, Und sicherlich Wäre Dkeß eine von den Arbeiten, die geeignet sind, das Leben mehrerer Schriftsteller aufzu- brauchen, so könnte man sich auf eine bestimmte Form beschränken. Man wählte auf gut Glück die Geschichte des Einen oder des Andern. Nehmen wir z. B. das neuere Theater. Man sähe es zuerst durch die christliche Jdee beherrscht«, welche es nach ihrer Willkühr ausbeutete, und nach einigem Umhertappen es in Frankreich in die Mysterien und geistlichen Stücke verwandelte. Kaum war das Signal gegeben, so wurden die Mvsterien nach einander überall angenom-