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Gesetzlichkeit gehabt haben. Unpartheilichkeit also und Gerechtigkeit für die Jdeen! —- denn indem wir darin "nachgraben, sinden wir sast immer sowohl den Menschen im Allgemeinen, als den Menschen der Zeit und des Orts. Ernsthaftes und unbefangenes Studium der Formen! —- denn beinahe Alle haben in sich einen Geist des Lebens, der nur auf die Fackel des Genies war- tet, um sich zu entzünden. Und in der That, um bei unserm Beispiele zu bleiben, was sind die Mysterien bei der Mehrzahl der Völker Europa’s? eine Kuriosität für den Gelehrten. Wohl! Lope de Vega und Calde- ron machten unter dem Namen Autos Sacramentales Mhsteriem wel- che die schönste Blüthe der dramatischen Krone Spaniens sind. Das Zeitalter des Ruhmes für das englische Theater ist in Frankreich das Zeitalter der Un- ordnung und der Finsterniß, weil der H ardi Englands sich Shakspeare, und der Shakspeare Frankreichs sich H ardi nannte. Dagegen ist die Tra- gödie Raeine’s seit zweihundert Jahren der Typus des französischen Trauer- spiels, und unser Zeitalter wiegt sich in der wahrscheinlich thörichten Hofs- nung, zweimal auf demselben Felde dem Genie zu begegnen, welches die Form belebt.

Vielleicht glaubt man, daß die ritterlichen Gedichte der französischen Spra- che gefehlt haben? Sie hat deren nicht weniger als Jtalien. Bloß der Dich- ter hat gefehlt. Wo ist Frankreichs Tasso, Ariost? Deutschland hat das Nibelungenlied, unförmig, aber gewaltig; Frankreichs hat alle epischen For- men erschöpft , und doch könnt Jhr mit Recht sagen: Frankreich hat keine Epopöe.

Was ist denn nun das literarische Genie? Tiefes, verehrtmgswürdiges Geheimniß, welches Alle fühlen, Niemand erklärt, nicht einmal das Genie selbst. Jst’s irgend eine Kraft, welche eine Welt aus Nichts schafft? Nein. Gott allein kommt es zu, Ursache und nichts als Ursache zu sein; der Mensch ist nur Ursache unter der Bedingung, daß er auch Wirkung ist. Das litera- rische Genie ist also nicht erschaffend in der wahren Bedeutung des Wortes, aber es hat die Macht und die Kühnheit (denn oft ist das Eine nicht weni- ger nöthig, als das Andere), sowohl die innigsten Gefühle, als die Vorgerückte- sten Jdeen seiner Epoche iu sich zu sammeln und nach Außen hin zu offenba- ren, alle zerstreuten Strahlen zu vereinigen, um sie sofort mit der Kraft, wel- che erleuchtet und entzündet, wiederzuspiegeln-. Seine Sendung geht dahin, auf der einen Seite die ewig menschliche, auf der andern die pergänglich na- tionale Wahrheit darzustellen; den Gedanken Alter in der Sprache Aller aus- zudrücken, aber so auszudrücken, daß es den Ausdruck zu seiner höchsten Kraft erhebt, zugleich den hervorragendsten Geistern und den Massen des Volkes zu genügen; eine fruchtbare Quelle, der sich jedes Gefäß und jede Lippe nähern- kann, wo« Jeder schöpfen, und welche Niemand versiegen machen kann.